Senderschwemme oder der Fluch der sozialen Sichtbarkeit

Senderschwemme oder der Fluch der sozialen Sichtbarkeit

Senderschwemme

90 Prozent aller Gedanken sind sinnlos, sagt mein Yogalates-Trainer bei der Überleitung in die „Endentspannung“ (sic!). Sinnlos nachzufragen, woher die Zahl stammt. Ich habe sowieso kein Problem damit. Ich brauche mich nur beim Joggen, Duschen oder Frühstücken selbst zu beobachten – Gedanken kreisen lassen, Probleme wälzen, Pläne schmieden. Besonders schlimm ist es beim Einschlafen, da hindert mich das Kopfkarussell geradezu an der Endentspannung, weshalb ich die auch in einem Sportstudio trainieren muss. Noch ärgerlicher aber: Das Grübeln stört die Kommunikation. „Du hörst mir nie zu“, schimpft meine Tochter und in diesem Fall muss ich ihr sogar recht geben. Ich habe mir gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn all die sinnlosen Gedanken tatsächlich Raum einnehmen und uns buchstäblich im Wege stehen würden.

Kurz darauf finde ich auf Facebook einen Beitrag meines Berufsverbandes djv über die Notwendigkeit der digitalen Sichtbarkeit. Logisch ist das wichtig, denke ich, klicke weiter und nach wenigen Minuten (sind es zwanzig oder gar mehr? Die Zeit ist ja im Social Web ratzfatz weg!) bin ich überzeugt: Wir sind längst dabei, unseren sinnlosen Gedanken so viel Raum und Zeit zu geben, dass sie zwischen uns stehen, Kommunikation verhindern, weil jeder nur noch Sender ist und die Empfänger knapp werden.

Das ist übrigens auf anderen sozialen Netzwerken keineswegs besser. Eine Bekannte hat sich auf Instagram ein Netzwerk von 280 Abonnenten aufgebaut, indem sie fast täglich ein schönes Foto mit Botschaft, einen Begleittext und zahllose Hashtags veröffentlicht. Der Lohn für ihre Mühen: Kommentare wie „You are awesome“ oder „Very interesting“ von Leuten, die mit Sicherheit nichts von ihr gelesen und verstanden haben. Die sich aber für kompetent genug halten, um zu vermitteln,  wie man zum echten Influencer wird – kostenpflichtig versteht sich!

Es ist dieser unendliche Strom an Meinungen, Mitteilungen und Wiederholungen, mit denen jeder versucht, vom anderen ein wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen und die der andere womöglich nur erwidert, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. „Ja, klar“, gesteht mir ein Online Business Coach, „ich verwende alte Posts immer mal wieder. Das ist ja so flüchtig, das merkt keiner – und ich kann mir nun wirklich nicht täglich neue Inhalte ausdenken.“

Arme schöne neue Welt, der ich mich ja auch nicht konsequent verwehre. Siehe dieses Blog, gelegentliche Tweets und Posts. Warum tue ich das so selten? Weil ich selbst nicht daran glaube, dass es irgendjemanden interessiert! Und warum tue ich es dennoch? Weil ich den digitalen Tod fürchte – siehe djv-Seminar. Apropos, wo ist jetzt wieder die Nachricht dazu geblieben? Ich kann sie nicht mehr finden.

Was also hilft, um nicht nur im eigenen Kopf unterwegs zu sein? Probieren wir es mal mit:
• Musterunterbrechungen: Ungewöhnliche Fragen stellen und selbst unerwartete Antworten geben!
• Training fürs Zuhören und Memorieren: Was waren die Meldungen der heutigen Tagesschau in der Reihenfolge ihres Auftretens?
• Einübung von Entspannung und Gelassenheit: Was soll von uns bleiben, wenn wir nicht mehr sind? Haufenweise digitaler Müll oder vielleicht doch lieber Freunde aus Fleisch und Blut, die um uns trauern?

0 Kommentare
Einen Kommentar hinterlassen