Treppenlifte, Hörgeräte („in Ihrer Nähe kostenlos testen“) und jetzt noch „Schadenersatz für Ihren Diesel“ – gelegentlich bin ich regelrecht enttäuscht über die Einfallslosigkeit der Botschaften, die mich ungebeten erreichen. Nach dem Motto, wer über 50 ist, wird das schon irgendwie gebrauchen können. Dabei nutze ich Treppen, selbst wenn im Sportstudio gerade der Lift vor meiner Nase hält, höre besser als mancher Teenager, so mein HNO-Arzt, und ein Diesel kam mir noch nicht mal in den Sinn, als der Begriff Skandalauto noch gar nicht erfunden war.
Cogito
Ist der Algorithmus also dumm? Nun, er bedient unsere personalisierte Timeline, verstärkt Emotionalität und Emörung, kann aber auch helfen, potenzielle Falschmeldungen zu enttarnen. Es kommt eben ganz auf die Programmierung an. „Ein Algorithmus interessiert sich nicht für die Wahrheit“, so die Botschaft eines der Plakate zur Hamburger Medienwoche. Die Kulturbehörde will mit der Kampagne „auch bei jungen Hamburgern ein deutliches Zeichen für die Zukunft unabhängiger Medien setzen.“
Die Frage ist nur, ob man junge Leute mit Plakaten, die mit, immerhin großen, aber eben doch ausschließlichen, Lettern vollgeschrieben sind und eher zufällig am Wegesrand stehen, überhaupt noch erreicht. Bitte das nicht als Bashing verstehen, ich bin gestern selbst zwei Stunden durch die Stadt geradelt und habe keines der Plakate entdecken können. Vermutlich, weil ich gerade im entscheidenden Moment nicht in die Welt, sondern aufs Skandalphone nach dem Weg oder einem Tweet geschaut habe.
Ergo sum
Dabei musste ich feststellen, dass der Algorithmus zugeschlagen und einen meiner verhältnismäßig seltenen, aber eben doch unbedachten Tweets einer klima-skeptischen Computerstimme zugespielt hatte. Und dies, obwohl es bisher null Verbindungen zwischen uns gab: „Gefolgt von niemandem, dem du folgst“, so Twitter. Das spricht immerhin gegen Filterblasen und durch soziale Medien zementierte Polarisierung. Aber eben auch gegen Tweets, die man flott, frei und folgenschwer absetzt. Genau das tat ich, als mich, einen Tag vor dem weltweiten Klimastreik, Pressemeldungen des Informationsdienstes Wissenschaft im Viertelstundentakt erreichten – alle unter dem Hashtag #klima. Das schien mir marktschreierisch. Nur merkte ich in diesem Moment nicht, dass ich mit meinem Kommentar selbst auf den Zug aufsprang. Ich schrieb an die Adresse @idw_online:
… Man kann einen Begriff auch überstrapazieren. Was tun, wenn alle über #Fridays4Future reden und doch nichts passiert?
Den Tweet habe ich inzwischen gelöscht. Meine Botschaft dazu bleibt: Wir lassen uns zu sehr von populären Hashtags, Posts und Tweets leiten, verlieren die Themen dann aber genauso schnell wieder aus dem Blick. Angela Merkel hat das anlässlich des 70. Geburtstag der FAZ mit ihrer Äußerung über ein geändertes Rezeptionsverhalten so formuliert:
„Man muss sehr schnell etwas scheinbar Wichtiges, über das jeder Zweite im Land spricht, wissen. Aber man muss nach zehn Tagen nicht mehr wissen, was aus dem geworden ist, was vor zehn Tagen ganz wichtig war.“
Angela Merkel im Gespräch mit FAZ-Herausgeber Berthold Kohler
Genau deshalb benötigen wir Wissenschaftler, die Themen langfristig verfolgen. Die Klimawissenschaftler tun das, nur wollte sie vor einem Vierteljahrhundert noch niemand hören. Inzwischen verteilen sie ihre Botschaften nicht nur an unabhängige Journalisten, wie den Ex-„Guardian“-Chef Alan Rusbridger. („Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Fakten.“) Sondern auch über soziale Medien. Anders würde die Ermahnung, langfristiger zu denken und kurzfristige Interessen hintanzustellen uns ja gar nicht mehr erreichen. Fragt sich nur noch, wie wir unserer Evolution vom Affen zum heutigen Menschen dabei ein Schnäppchen schlagen könnten: Vor dem Tiger laufen wir immer noch davon, vor der Zerstörung des Planeten schrecken wir nicht zurück. Schafft nur ein intelligenterer Algorithmus und unsere Ablösung durch den „Homo digitalis“ Abhilfe?!