Dead Deals und wahre Wirklichkeit

Dead Deals und wahre Wirklichkeit

Es gab vor sechs Jahren im Journalist-Magazin ein Interview, das mich nachhaltig beeindruckt hat. Es bestand nur aus Fragen. Alle Antworten waren geschwärzt. Der Grund: Der Medienunternehmer Gabor Steingart hatte bei der Autorisierung versucht, Gesagtes im Nachhinein komplett um- oder sogar neu zu schreiben. Selbst vor einer Bearbeitung der Fragen machte er nicht Halt. Da hat die Redaktion lieber ganz auf die Antworten verzichtet.

Daran musste ich bei der letzten Autorisierung eines Interviews denken. Okay, die Fragen waren geblieben, aber ansonsten kam alles rot zurück. Ich habe quergelesen, innerlich geseufzt und dann an die Auftraggeberin weitergeleitet, die auch schon – moderat, aber immerhin – modifiziert hatte. Der Grund für meine resignierte Reaktion: Es handelte sich bei dem Auftrag nicht um Journalismus, sondern um PR. Frustriert hat mich das Prozedere dennoch. Hätte ich doch genauso gut einfach Zeilenzahl und Kernfragen vorgeben und dem Gesprächspartner das Interview gleich selbst schreiben lassen können – ich hätte mir die Mühe, möglichst nah am O-Ton zu bleiben und damit viel Zeitaufwand erspart.

Ich sehe was, was du nicht siehst

Nur ein kleines Beispiel für eine große Systemfrage: Auf welche Realität werden wir uns zukünftig noch einigen können, wenn gefühlte Wahrheit und individuelle Wirklichkeit die Oberhand gewinnen? Seit auf Plattformen eigene Inhalte aufbereitet, hochgeladen und massenhaft verbreitet werden können, ist es leichter geworden, es mit den Tatsachen nicht mehr ganz so genau zu nehmen. Dazu kommen jetzt noch der mächtigste und der reichste Mann der Welt, für die Wirklichkeit nur eine Frage des richtigen Deals zu sein scheint. Ein schön frisiertes Interview ist da nur der Anfang. Wenn Opfer und Täter vertauscht, Faktenchecker entlassen und Denkvorgänge möglichst per Technik gesteuert werden, wird es ernst.

Drei Beispiele

  • Fotos: Voreingebaute KI-Korrekturen lassen die reale Aufnahme schon beim Auslösen in einem anderen, vermeintlich perfekteren Licht erscheinen. Die Bilder zeugen damit von Ereignissen, die so nie stattgefunden haben und versuchen Fakten zu schaffen, die in Wahrheit Fake sind.
  • Smarte Geräte: Für die Vorteile einer Gesundheitsüberwachung werden „Wearables“ gelobt, aber es geht längst über Bluthochdruck, Fettleibigkeit und Diabetes hinaus. Elektronische Systeme in Kleidung ermöglicht es beispielsweise, Mitarbeiter zu überwachen. Die Maßnahmen, die in der Arztpraxis oder in der Arbeitswelt daraus entstehen können, dürften die Betroffenen hart auf dem Boden der Realität aufkommen lassen.
  • Immersive Technologien: Smart-Brillen sind darauf angelegt, dass wir uns aus dem Alltag lösen und in vermeintlich aufregendere Welten eintauchen. Das könnte nicht nur unsere Aufmerksamkeit noch mehr beeinträchtigen als die Smartphones, sondern auch unser Körpergefühl, soziale Interaktionen – und Kurzsichtigkeit vorantreiben, warnt Medizinethikerin Alena Buyx.

Bleibe unberechenbar

Ganz schön schwarz gemalt? Was mir Hoffnung gibt: Früher oder später holt die Wirklichkeit jeden ein, wächst die Sehnsucht nach echter Begegnung, einem realen Drink, Nahrung, Schlaf oder sanitären Einrichtungen. Und irgendwann ist wirklich „over“. Bis dahin trauen Sie ihrem gesprochenen Wort ruhig mehr – wie heißt es heute noch so schön – „Wirkmächtigkeit“ zu. Es lässt einfach viel eher aufhorchen, wenn jemand authentisch spricht und nicht so austauschbar wie von einer KI diktiert. Wen es nicht überzeugt, möge den Selbsttest machen: Welche O-Töne aus dem Wahlkampf, dem letzten Meeting oder Gottesdienst erinnern Sie besonders?

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