Ich bin ein Dinosaurier. Im Sportstudio sitze ich ohne Musik auf den Ohren am Rückenstrecker und lasse die Gedanken und Blicke schweifen. Etwa auf die junge Frau mir gegenüber an der „Seated Dip Machine“. Bei einem Einführungstermin hatte ein Trainer geraten, sich an dem Gerät auf Brust und Trizeps zu fokussieren. Doch die Muskulatur der Sportlerin wirkt geradezu unterfordert und ihr Fokus gilt eher dem schwarzen Knopf in ihrem Ohr. Das wird deutlich, als ein durchtrainierter Mann auf sie zugeht. Auch er hat einen Bluetooth-Kopfhörer dabei, aber offenbar die Geräuschunterdrückung deaktiviert. „Hi Caro, wie geht es?“, fragt er und reicht die Faust. In diesem Fall mehr Schlag als „Fist Bump“-Begrüßung. „Oh, ich war gerade ganz wo anders“, sagt die Sportlerin etwas unwirsch, „ich höre einen Podcast.“
Podcasts auf allen Kanälen, zu jedem Thema und überall abrufbar. Im Sportstudio oder im Zug. Auf dem Internetauftritt der Tageszeitung oder des Berufsverbandes. Von Profis wie Hörfunkjournalisten produziert oder Neueinsteigern wie die Nachbarin, die ihrem Talk mit der Tochter Gehör verschaffen will. Wer soll sich das alles um die Ohren hauen, frage ich in einem Podcast-Webinar, das der Deutsche Journalistenverband Nord angeboten hat.
Love is in the air/ Lose in the ear – das ist hier die Frage
Refertin Christiane Zwick kontert zu recht mit dem prall gefüllten Buchmarkt. Niemand kann und vor allem will die 70.000 Titel lesen, die jährlich in den Handel kommen. 10.000 weniger sind es als noch vor zehn Jahren, weil immer weniger Menschen gedruckte Bücher kaufen. Dennoch ein Medium, das bleiben wird, ist sich der Börsenverband des Deutschen Buchhandels sicher. Die Corona-Krise habe Kinder- und Jugendbücher befügelt, Reiseführern das Genick gebrochen, aber gelesen werde nach wie vor, weil man mit dem Medium Buch am besten nach eigenen Rhythmus abtauchen könne. Wer das mit einem Podcast macht und gleichzeitig Fahrrad fährt, lebt zumindest gefährlicher. Doch gerade die leichte Verfügbarkeit und gleichzeitige Blickfreiheit dabei, ist für viele Menschen bestechend: Podcasts boomen. Nicht erst durch, aber seit Corona ganz besonders. Selbst die Buchbranche will nicht darauf verzichten und gibt monatlich das Audio Kinderbuchpraxis heraus.
Hörfunk-Journalistin Zwick spricht von einer Geschichte in drei Wellen, vom Nischenprodukt hin zum Nice-to-Have bis zum Mainstream. Im Unterschied zum Hörfunk werde auch der Host als Person wichtiger, helfe über Schwellen, schaffe Community und bleibe aufmerksam gegenüber dem Publikum. Das betont auch Podcasterin Samira El Ouassil:
Ich kann beim Podcast etwas übers Zuhören erfahren, was mit hilft, interessante Gespräche zu führen. Also bitte keine Angst vor dem „und“. Das „und“ ist immer ein Gewinn.
Samira El Ouassil, journalist-Medienmagazin, Juni 2022
Ich finde das einen reizvollen Gedanken, dachte ich doch immer, dass sich die Podcaster mehr um die viel bemühte Authentizität, das Plaudern oder Politisieren kümmern, um Abrufzahlen und Verweildauer. So wie es den Zuhörern mehrheitlich wohl um gute Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung geht. Die meisten Podcasts werden schließlich nebenbei gehört – unterwegs, beim Sport oder der Hausarbeit. Das ist aus meiner Sicht Hören, nicht Zuhören. Was kommt da an und bleibt gar hängen? Machen wir doch mal die Probe aufs Exempel.
- Die besten Podcasts bieten nicht von ungefähr Hörfunkjournalisten und zumindest Medienschaffende mit bezahlten Verträgen.
- Für Freie ist es Instrument der PR, Sichtbarwerdung und Selbstvermarktung.
- Man braucht Zeit und einen langen Atem, um die Zielgruppe zu finden, binden und zu halten.
- Dabei geht es vom Visuelle ins Auditive: Ein klares Cover ist der Anker, ein guter Titel schafft Aufmerksamkeit, eine schöne Stimme gute Laune.
Nach dem Sport schalte ich den Deutschlandfunk an. Was läuft da gerade? Ich muss nicht lange wählen, ich bleibe auf dem Laufenden und mit „einer Stunde History“ bin ich auf der Höhe der Zeit: Es ist ein Podcast.
Herr N.
1. Juli 2022Guten Tag, ebenfalls Dinosaurier. Und fürchte auch, dass mehr hören und weniger zuhören mindestens korrelieren. (Und meine Disposition, bereits bei Hörbüchern aufgefallen: Sie sind zu langsam; und wenn Stil sehr gut ist, möchte ich es lesen und feiern.)
Deike
1. Juli 2022Guten Tag Herr N.,
die Hörbucherfahrung teile ich: Habe meiner sehbehinderten Tante vor drei Jahren „Mittagsstunde“, vorgelesen von Hannelore Höger geschenkt. Eine gute Schauspielerin, eine starke Stimme – und dennoch zum Einschlafen. Grauenhaft! Als ich das mit meiner Tante zusammen anhörte, habe ich mich geschämt, weil ich das nicht vorher getestet, sondern mich einfach nur auf das Label „Hörbuch des Jahres“ verlassen hatte. Sie war dann nach 10 Minuten so was von verlassen – und das lag nicht an ihrer einsetzenden Demenz…