Samuel Paty hatte viele Leidenschaften. Die Geschichtswissenschaft gehörte auf jeden Fall dazu. Seine Schüler schildern ihn als einen Vorzeigepädagogen, der Hintergründe erklärte, diskutierte, den Dialog suchte. Ein Lehrer, der daran glaubte, dass man Menschen durch Bildung verbessern, aus Geschichte lernen kann und der für Meinungsfreiheit eintrat. Das Ende ist bekannt: Am 16. Oktober 2020 wurde Samuel Paty auf bestialische Art von einem tschechischen Islamisten ermordet. Er wurde nur 47 Jahre alt und hinterließ einen kleinen Sohn.
Je voudrais que ma vie et ma mort servent à quelque chose. (Ich möchte, dass mein Leben und mein Tod zu etwas nützlich sind)
Samuel Paty gegenüber einem ehemaligen Schüler
Erschütternd: Fünf Schüler haben ihren Lehrer an den Attentäter ausgeliefert – für ein Schweigegeld von 300 Euro. Aktuell müssen sie sich für Gericht dafür verantworten und erklären, warum sie niemanden alarmiert haben, selbst wenn sie „nur“ von einer Bestrafung, nicht von einer Hinrichtung ausgingen.
Erschütternder: Mitangeklagt ist eine Schülerin, die zum Zeitpunkt des Attentats 13 Jahre alt war. Sie hatte alles ausgelöst, indem sie ihrem Vater eine Lüge auftischte und ihren Geschichtslehrer als islamfeindlich anprangerte. Der trug die Lüge weiter in soziale Netzwerke, ein gehässiges Video ging viral und rief den Terroristen auf den Plan.
Die Historikerin Valérie Igounet geht mit ihrer Graphic Novel „Crayon Noir“ genau diesem Komplott aus Verschwörung, Verleugnung und rasanter Verbreitung in sozialen Netzwerken nach. Sie ist auf die Geschichte der Holocaustleugnung in Frankreich spezialisiert und will mit ihrem Buch vor allem junge Leute erreichen. Auf die Frage einer France Inter-Journalistin, ob Samuel Paty ohne soziale Medien noch am Leben wäre, macht sich die Historikerin die Antwort nicht einfach. Was-wäre-wenn-Fragen seien nun einmal wissenschaftlich nicht eindeutig zu beantworten. Aber die Zeichen der Radikalisierung, die in Tweets des Islamisten deutlich und einer Regierungsplattform angezeigt worden waren, seien zumindest nicht richtig gedeutet worden. Und selbst als der Vater der Schülerin seinen Facebookeintrag wieder löschte, blieb die Falschmeldung im Netz und verbreitete sich weiter.
Une fois que les mots sont inscrits sur quelque chose, ils restent et peuvent conduire à des assassinats. (Einmal veröffentlicht, bleiben die Worte und können zu Meuchelmorden führen.)
Valérie Igounet, Autorin der Graphic Novel „Crayon Noir“
Ein Attentat. Ein Angriff auf die Freiheit. Alarmstimmung in Samuels Kollegium und bei vielen Lehrkräften, nicht nur in Frankreich. Auch wenn Politiker, Didaktiker und selbst die Schwester des Ermordeten betonten, dass so etwas nie wieder passieren dürfte. Drei Jahre später ist es wieder passiert. Anders und doch erneut tödlich für einen Französischlehrer im nordfranzösischen Arras, 57 Jahre alt und Vater von drei Kindern.
Kann man aus der Geschichte lernen?
Es war kein Anschlag, kein Attentat und auch kein Amoklauf und doch empfand ich das Ende meiner Kindheit als abrupt: Ein historisch interessierter Mitschüler hatte in einer Pause Holocaust-Daten an der Tafel verewigt und die Geschichtslehrerin nahm das zum Anlass, den Lehrplan zu Beginn der siebten Klasse umzuschreiben. Ich fiel aus rosaroten Wohlfühlwolken und wollte es erst nicht glauben: Wie ließ es sich leben und aufwachsen in einem Land, in dem alle Regeln der Menschlichkeit und Zivilisation in zwölf Jahren mit den Füßen getreten worden waren. Später beschloss ich, Geschichte zu studieren. Weniger aus Interesse an Epochen, Namen und Daten als in der Hoffnung, von der Vergangenheit für die Zukunft lernen zu können.
Der aktuell wieder sehr sichtbar gewordene Antisemitismus hierzulande lehrt uns eines Besseren. Woran das liegt?
- Geschichte ereignet sich, nicht selten jenseits von Wahrscheinlichkeiten und aller Vernunft. Oft werden Motive erst im Rückblick erklärbar.
- Geschichte oder besser gesagt, das was zu ihr wird, ist prinzipiell zukunftsoffen und ungewiss.
- Zudem ist der Mensch per se eher ein ahistorisches Wesen. Es fühlt sich für uns so an, als gebe es die Welt erst ab unserer Geburt und sie endet folglich auch mit unserem Tod. Dazwischen halten wir uns vielfach für den Nabel der Welt.
Umso wichtiger ist aber Bewußtmachung, genau wie sie Historikerin Igounet anstrebt. Strategisches Denken, das der Geschichtsdidaktiker Peter Geiss schulen will. Historische Perspektiven auf gegenwärtiges Sein, das ich gern in Biografien an kommende Generationen weitergeben möchte. Auch weil individuelle Geschichten sehr wohl etwas über ihre Zeit aussagen, zugleich emotional berühren und mitreißen können. So wie die Memoiren „Ein unmögliches Leben“ der Dame Stephanie Shirley. Vor 85 Jahren setzten sie ihre Eltern als Vera Stephanie Buchtal zusammen mit ihrer älteren Schwester in den Zug nach London. Die damals Fünfjährige gehörte zu den rund zehntausend „The Kinder“, die nach der Kristallnacht aus Nazi-Deutschland entkommen konnten, weil britische Familien zu ihrer Aufnahme bereit waren. Gerade in Zeiten von Krieg und vielen Flüchtenden ist es wichtig, dass junge Menschen solche Geschichten lesen, hören, sehen. So viel Zeit muss sein.
204 Minuten täglich verbringen Jugendliche im Alter von 12-19 Jahren in ihrer Freizeit vor Bildschirmen mit einem Internetzugang. So ist es in der Sendung „Kinder im digital overkill: Zwischen Dauerzocken und digitalem Lernen“ im Deutschlandfunk nachzuhören. Eine Zahl, die Erwachsene sicher noch toppen, wenn ich mich so beim Sport oder unterwegs umschaue. Aber es ist ja auch in der Regel nicht die Dauer, die beunruhigt. Sondern was man daraus macht, ob man sich von der Außenwelt abschottet, jeder digitalen Reichweite blind vertraut und dabei Hass, Fake und Mobbing weiterträgt.