Der Brei der Vielen

Der Brei der Vielen

Bei der Texterstellung spricht sehr viel für das Vier-Augen-Prinzip. Gegenlesen, redigieren, Fakten checken, das ist und bleibt wichtig – und fällt Außenstehenden oft leichter als dem Verfasser selbst. Hingegen leiden Originalität und Nuancen spätestens bei acht Augen, die kritisch auf den Text blicken. Oder um die sprichwörtlichen vielen Köche zu bemühen: Es entsteht Brei, wo Tacheles mehr Aufmerksamkeit generiert hätte; fades Allerlei, wo eine herzhafte Spezialität auf den Geschmack bringen könnte.

Ein Beispiel aus der eigenen Praxis

Für eine Recherche zu „Schillers Rudolstädter Sommer“ im Jahr 1788 reise ich im Sommer 2023 nach Rudolstadt. Aber wie den für viele Menschen inzwischen längst verstaubten Dichter und seine Zeit lebendig werden lassen? Da fügt es sich, dass im Rudolstädter Schillerhaus am Abend meines Eintreffens eine Lesung stattfindet. Damit beginne ich meine Geschichte:

Ein Sommerabend in Rudolstadt. Menschen finden einen schattigen Sitzplatz unter einem alten Walnussbaum, erfrischen sich bei einem kühlen Getränk und lauschen „Rudolstädter Lieblingstexten“: Gewünscht von Laien, vorgelesen von Schauspielern, darunter moderne Gedichte, selbstgeschriebene Kunstprosa, aber auch die Ballade „Die Teilung der Erde“ und ein Auszug aus dem Drama „Maria Stuart“, beides von Friedrich Schiller. Das trifft sich gut, denn Ort des Geschehens ist der Schillergarten vor dem gleichnamigen Museum. Hier konnte der Dichter selbst „herum wandeln” und über Texte nachdenken, wie er an Charlotte von Lengefeld, die Tochter des Hauses und seine spätere Ehefrau schrieb. Auch wenn das schon 235 Jahre her ist.

Aber die Anspielung an den Sommer gefällt dem zuständigen Redakteur nicht. Er fürchtet Leseabbrüche, wenn doch der Text erst im Herbst veröffentlicht wird. Also schreibe ich den Einstieg um. Nur: Zum Ende des Sommers übernimmt ein neuer Redakteur das Ressort. Er findet den Text okay, vermisst aber aktuelle Bezüge und schneidet weg, was über Schiller hinausweist. Im Gegenzug fügt er Zwischenüberschriften ein, so ergeben sich viele Häppchen für Querleser. Für eine Überarbeitung des Anfangs zurück auf die Lesung ist es zu spät. Die Schlussredaktion hat den Text schon abgenommen. Acht Augen, rund 6000 Zeichen und Thema durch.

Die Tiktokisierung der Kunst

Aus 90 Minuten Kinofilm 30*3-Minuten-Clips? Jeder mag selbst entscheiden, wie und wo er Filme konsumiert. Ich für meinen Teil finde, dass

  • man den Krieg in Israel oder in der Ukraine nicht in 30-Sekunden-Spots erklären kann,
  • die „Weisheit der Vielen“ im Wettbüro punkten mag, aber nicht bei einer guten Geschichte
  • und wir sowieso nicht alles auf eine Trend-App ausrichten sollten, die zwar hip und sehr erfolgreich, aber eben auch erst fünf Jahre alt ist und in fünf Jahren vielleicht schon wieder alt aussieht. So wie Facebook heute.

Schiller übrigens war die Gefallsucht zuwider. Er hat geschrieben, wie er wollte. Lang und ausufernd, eine absolute Zumutung, die immerhin 235 Jahre überdauert hat.

Was wird in 235 Jahren noch vom TikTok-Kino übrig sein?

Und damit nicht ganz uneigennützig und auch nicht geradewegs zu meinem neu gestarteten Biografie-Service. Nein, ich verspreche keinen Schiller-Band und erst recht keinen Bestseller. Aber ich verspreche so viel Hintergrundwissen, Historizität und Korrekturschleifen wie nötig, um Zeitgeist zu begreifen und Lebenszusammenhänge zu verstehen. Das wird nicht mit kurzen Clips getan sein. Dafür reicht aber in der Regel das Vier-Augen-Prinzip. Es mündet in ein Werk aus einem Guss, das weitergegeben werden kann – und im besten Fall in neuen Erkenntnissen.

Schauen Sie gerne mal rein.

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