Engbedruckt, schlecht abfotografiert, voll des französischsprachigen Seglerlateins und fast 80 Jahre alt: Ich gebe zu, es macht Mühen, den „Rapport de Mer“ vom 13. Januar 1943 über das Unglück an Bord des Segelschiffes „Père Patient“ aus Les Sables d’Olonne zu lesen. Aber es lohnt sich, zumindest wenn man wie ich einen Großvater hat, der als Besatzer und Hafenkommandant für das Unglück und damit den Tod des Kapitäns Maurice Berthomé verantwortlich gemacht wurde – ich berichtete. Damals hatte mein Großvater eine strikte Hafensperre ab 21:00 Uhr verhängt und viele wollten glauben, dass diese die Rückkehr des Fischerbootes in den sicheren Hafen verhindert hatte. Bis vor kurzem fand sich diese Geschichte im örtlichen Museum im Bunkerkrankenhaus, das den Spuren des Zweiten Weltkriegs auf den Grund gehen will. Ich fand sie dort, fühlte mich betroffen, stellte Nachforschungen an – und stieß auf eine ganz andere Version der Wahrheit.
Croyez-moi, Madame… Glauben Sie mir, Ihr Großvater hat mit dem Tod des Kapitäns nichts zu tun, absolut gar nichts
Roland Mornet, Kapitän, Hobby-Historiker und Autor aus La Chaume, Les Sables d’Olonne
Kurz gesagt, der Fischsegler „Père Patient“, was so viel wie „Geduldiger Vater“ bedeutet, befand sich rund 90 Seemeilen vom Heimathafen entfernt an der Girondemündung, als ein Sturm aufkam und erst das Focksegel losriss, dann den Kapitän über Bord fegte (der zu seinem Unglück kurz zuvor seine schwere, schwimmuntaugliche Uniform angelegt hatte), schließlich das Schiff komplett drehte und für eine Weile manövrierunfähig machte. Da war der „Geduldige Vater“ zum „Tobender Vater“ geworden und die verbliebenen Matrosen an Bord mussten zusehen, dass sie es ihrem Chef nicht gleichtaten, der ihnen in 30 Metern Entfernung zurief „Oh, les gars“ [Oh, Leute], bevor er in den Tiefen des Ozeans verschwand. Will man es der Mannschaft verdenken, dass sie wenigstens noch den Fisch mitnahm, der ihr durch den Umweg in südlicher Richtung ins Schlepptau gegangen war? Erst einen Tag später legte sich der Sturm. Die Fischer mussten nicht länger halbstündlich Wasser aus dem Rumpf schöpfen. Vielmehr konnten sie endlich Kurs auf den Heimathafen nehmen, den sie am Folgetag um die Mittagszeit erreichten. Alle bis auf einen…
Was lehrt uns diese Exkursion in die Vergangenheit?
- Fragen wir ruhig häufiger nach den Quellen, den Ursprüngen einer Nachricht
- Machen wir uns die Mühe und steigen hinab in die Orte der Wahrheit, die Archive
- Schätzen wir Relikte der Vergangenheit mehr als noch so eindrucksvolle Reinszenierungen
- Plappern wir nicht ungeprüft nach, was andere erzählen
- Verharmlosen wir eine Lüge nicht als Narrativ
- Versuchen wir die größten Scheuklappen und Vorurteile abzulegen, bevor wir uns an eine Recherche machen…
Dass man für die schreckliche Nachricht vom Tod eines Familienvaters und Arbeitgebers in Les Sables nach einem Sündenbock suchte, ist verständlich. Dass die Besatzer, ihre strengen Regelungen und vor allem der Hafenkommandant nicht beliebt waren, ist ebenfalls keine Überraschung. Irgendeiner hat dann einfach aus zwei Unglücken, dem auf hoher See und dem der Fremdherrschaft, eines gemacht und die Geschichte in den Umlauf gebracht. Wie aber konnte die Lüge es bis hinter die Museumsvitrinen schaffen? Mornet vermutet dahinter einen Verein namens „Grains de mémoire“ [Male der Erinnerung]. Der Verein widmet sich der Geschichte regionaler Widerstandskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine ehrenwerte Sache, solange man sie nicht mit ideologischen Scheuklappen angeht – Mornet jedenfalls ist schon mehrmals die Hutschnur geplatzt, wenn einfache Geschichten für komplexe Wirklichkeiten herhalten mussten. Oder umgekehrt wie bei dem Lotsen, der nicht wegen Spionage, sondern durch die Rache einer Frau an die Gestapo ausgeliefert wurde.
Der Betreiber des Museums im ehemaligen Bunkerkrankenhaus arbeitet mit „Grains de mémoire“ bei Führungen zusammen und will nichts ausschließen, kann sich aber nicht genau erinnern. Immerhin sei es acht Jahre her, dass die Infotafeln beschriftet und Material in Kartons verstaut wurde.
J’ai essayé de retrouver précisément dans ma bibliothèque mais mes recherches n’ont rien donné… J’ai écrit tous ces panneaux il y a déjà 8 ans et rangé beaucoup de choses dans des cartons depuis…
Luc Braeuer, Betreiber des Museums Blockhaus Hôpital in Les Sables d’Olonne
Was aber haben Museen, Erinnungsorte und Journalismus gemein? Sie sollten nicht manipulieren, nicht Erinnerungen zum Schweigen bringen und nicht der Lüge auf den Leim gehen. Das ist übrigens auch dem Betreiber des Blockhaus Hôpital Museum in Les Sables d’Olonne ganz wichtig, wie er betont. Das Ausstellungsplakat wurde mittlerweile leicht angepasst und schaut aktuell wie folgt aus:
https://uhtenwoldt.de/wp-content/uploads/2022/06/fSdO-PannHist12-corrige-2juin2022.pdf