Misstory: Geschichte(n), die keiner will

Misstory: Geschichte(n), die keiner will

Ein Deutscher, in Frankreich lebend, besucht das „musée du Blockhaus Hôpital“ in Les Sables d’Olonne und trifft in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg neben Puppenkrankenschwestern, Waffen und Verbandszeug auf das Foto seines Großvaters hinter Vitrinen. Dargestellt als Hafenkommandant, Besatzer und strenger Befehlshaber. Er liest davon, dass ein Fischer sterben musste, als dieser fünf Minuten nach Schließung des Hafens noch um Einlass bat. Der Großvater, ganz disziplinierter Preusse, befand indes, dass es keine Ausnahme von der einmal erlassenen Regel geben dürfe. Wo käme man denn da hin? Nun, in diesem Fall in den sicheren Tod: Sturm kam auf und eine Welle riss den Fischer mit sich. Ein schreckliches Unglück, geschehen vor bald 80 Jahren.

Besagter Deutscher ist mein Cousin und sein Großvater auch meiner. Und damit der Ur-Opa meiner Tochter, die sich mit mir aufgemacht hat in eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig: Les Sables d’Olonne wirbt heute als Weltumseglerstadt um Touristen mit Interesse an maritimen Speisen und Flair, an Radtouren zwischen Salzwiesen und Naturschutzgebiet, am Wellensurfen und bewegten Stand-up-Paddeln. Aber auch die Vergangenheit reist mit. In tagesaktuellen Nachrichten aus der Ukraine und schrecklichen Kriegsbildern, von denen wir dachten, dass sie in Europa niemals wieder möglich wären. In einem ausgezeichneten Musée de la Libération in Paris, das für alle Gäste, sogar die Nachfahren der ehemaligen Besatzer, gratis ist. In den Protesten der Fischer in Les Sables d’Olonne gegen zu hohe Spritpreise. Sie verbrennen Autoreifen (warum das gegen hohe Spritpreise helfen soll, leuchtet mir allerdings nicht ein) und sie errichten eine Hafensperre. Wie damals mein Großvater.

War Opa also doch ein Nazi?

Die Geschichte vom wiederentdeckten Großvater bewegt mich und ich behaupte, sie ist so aktuell wie nie. Daher biete ich sie auch Reiseredaktionen an, für die ich seit vielen Jahren schreibe. Aber entweder ist der Aufhänger zu persönlich oder ein allgemeiner fehlt. (Das nächste Non-stop-Seglerrennen „Vendée Globe“ startet schließlich erst in zweieinhalb Jahren). Oder die Geschichte hat zwar einen schönen „emotionalen Anlass“ (so DB Mobil), sei aber besser aufgehoben im Gesellschafts-, Geschichts- oder sogar Studi-Ressort (wenn die Tochter ihre Sicht auf den Ur-Opa schildere). Dazu wäre diese sogar bereit, aber die angeschriebenen Ressorts antworten entweder gar nicht (Zeit Campus, SZ Gesellschaft) oder sehr allgemein (Brigitte: „Das Thema passt derzeit nicht in unsere Planung“ oder „für uns nicht so recht“, so die Zeit und FAZ.) Ist die Geschichte also keine?

Wenn fünf renommierte Redaktionen abwinken, könnte man davon ausgehen. Ich rate dennoch dazu, nicht klein beizugeben. Denn den Kollegen in den Redaktionen fehlt oft die Luft, sich auf alle möglichen Themenvorschläge und Informationen, die rund um die Uhr auf sie einprasseln, einzustellen. Wer da neu einsteigen will, braucht einen langen Atem. Schließlich gilt:

  • Viele Redaktionen orientieren sich an den Nachrichtenmagazinen wie Spiegel, Focus und ihren Aufmacherthemen. Inzwischen aber auch an trendigen Twitter-Hashtags.
  • Es gibt einen Unterschied zwischen Informant, Whistleblowern und freien Autoren. Letztere wollen nämlich die Geschichte selbst schreiben und dafür bezahlt werden.
  • Das gelingt den Freien, die sich schon einen Namen mit guten Geschichten und Themen gemacht haben.
  • Merke: Toller Story-Teller zu sein, darf nie eine Behauptung sein, sie benötigt Beweise!

In meinem Fall endet die Reise mit einem Besuch bei der Tante in einem Vorort von Paris. Zum Abschied gibt es eine Mappe mit Familienbildern. Es soll Namen und Erinnerungen vor dem Vergessen bewahren, die meine Tante in einer Zeit eingesammelt hat, als es noch kein Fernsehen und erst recht kein Internet gab.

Zwischen Fotos von lesenden, lachenden und lernenden Kindern findet sich eine Seite, die dem Krieg und meinem Großvater gewidmet ist. Ein Foto zeigt einen schmucken, braungebrannten Mann in Badehose am Sandstrand. Die Bildunterschrift: „Les Sables d’Olonne, 1941“. Was nach einem touristischen Spaziergang aussieht, endete zwei Jahre später im Eklat. Nach dem Tod des Fischers Maurice Berthomé, der ein angesehener Vorgesetzter im Hafen war, wandte sich die Bevölkerung gegen meinen Großvater. Er wurde Ende 1943 nach Norwegen versetzt. Dort soll er sich am Ende des Krieges geweigert haben, einen Widerstandskämpfer zu erschießen, sagt meine Tante. Den No-Nazi beweist das indes nicht und ist sowieso eine andere Geschichte.

Ich möchte wissen, ob es von der Familie Berthomé noch Nachfahren gibt und kontaktiere die Museumsbetreiber. Die Geschichte nimmt Fahrt auf…

2 Kommentare
  1. Andrea Madadi
    14. April 2022

    Danke! Geht die Geschichte noch weiter, Deike?

    • Deike
      15. April 2022

      Liebe Andrea, ich bin auf jeden Fall dran und in Kontakt mit den Brüdern Luc und Marc Braeuer, die das Blockhaus Hôpital in Les Sables d’Olonne betreiben. Sie haben mich an einen Buchautor verwiesen, der über die Geschichte des Hafens geschrieben hat. Ob es noch Nachfahren des Fischers Berthomé gibt, kann – wenn überhaupt – nur er beantworten. Ich bin gespannt, ob er sich meldet. Danke dir für dein Interesse!

Einen Kommentar hinterlassen