Der letzte Schrei

Der letzte Schrei

Es ist der nächste große Schrei der Entrüstung: Der Vorwurf in Deutschland gebe es kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Lautstark vorgetragen von denjenigen, die von diesem Recht nur allzu gern Gebrauch machen und ihre Kritik am Staat, der Gesellschaft und besonders ihren politischen Repräsentanten polternd verbreiten. Im Netz, in Kommentarspalten, am Waffelstand. Auch wenn wir um ihre Meinung gar nicht gebeten haben.

Im Ernst, man kann der Bundesrepublik sicher einiges vorwerfen. Zögerlicher Umgang mit der Vergangenheit, beispielsweise. Schlaftrunkenheit gegenüber den Herausforderungen der Digitalisierung oder eine kleinteilige Bürokratie, von mir aus. Aber die Meinungsfreiheit ist hierzulande ein hohes Gut, wie auch „Reporter ohne Grenzen“ der Bundesrepublik attestieren. Und wenn Studierende meinen, Vorlesungen verhindern zu müssen, weil sie nicht die Haltung des Vortragenden teilen, kritisieren das Politiker wie Medien unisono. Dann dürfen sich aber auch User echauffieren und etwa die sofortige und dauerhafte Exmatrikulation aller Studierenden fordern, die an der Demonstration teilgenommen haben. Das nenne ich eine freie Meinungsäußerung, was sonst?

Was mich vielmehr nervt, ist die Tatsache, dass die Meinungsäußerung immer stärker kanalisiert und ins Netz verlagert wird. Was unweigerlich zu immer lauteren Schreien und Polarisierungen führt – moderate Töne werden schließlich bei der Fülle der Meinungsäußerungen kaum noch wahrgenommen und gehen im Rausch der Trolle unter.

Auch jenseits aller Kommentare und freien Meiungsäußerungen geht die moderne Kontaktaufnahme so:

E-Mail ist für dich wie 90iger IT? Dann schick uns doch eine Whatsapp oder Facebook-Nachricht

Das schreibt sinngemäß und im Original auf Englisch Filmemacher Christoph neben seinem Kontaktformular zu „On the Way to New Work“. Da will man sicher nicht auf eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert, die Tonübertragung über elektrische Leitungen, zurückgreifen. Und wer Bedenken hat gegen Messenger Dienste, die auf Kontakte des eigenen Telefonbuchs zugreifen und diese mit anderen Betreiber teilen, ist schnell als Aluhutträger enttarnt.

Bisweilen treibt der Hang zur schriftlichen, digitalen Kommunikation Blüten – keineswegs nur bei hippen Podcast-Produzenten. Denn laut DSGVO muss zwar zu jeder Publikation oder jedem Blog ein Impressum mit einer Telefonnummer angegeben werden, aber nicht immer führt diese zum Erfolg:

  • Beim „Weight Watchers Magazin“ landet man damit beim Kundenservice und dem Hinweis, dass man auch die Möglichkeit habe, „uns per E-Mail zu kontaktieren“.
  • Wer sich nicht so schnell abwimmeln lässt, stößt mit der Bitte, zur Redaktion durchgestellt zu werden auf Granit: Was für ein Magazin denn? Ach so, das Kundenmagazin, da müsse man sich nach Hamburg wenden. Wieder verkehrt, in Hamburg sitzt nur der Leserservice und weiß von nix.
  • Oder die Berliner Nummer, die zum Magazin „Neue Narrative“ gehört. Wer sie wählt, landet bei einem „Hintergrund-Manager“, der freundlich, aber bestimmt erklärt, dass ein Anruf nicht opportun und die Nummer eher privat sei. Könnte ja auch sonst jeder wählen.

Es geht nichts über den persönlichen Austausch, sagt meine Kundin, die Mails schon mal überliest und Posts für überbewertet hält. Ihre Devise:

Je mehr ich poste, desto weniger bin ich – Mensch!

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