Gerade ist es mir wieder passiert auf dem Weg zum Sport: Beim Überqueren der Straße läuft mir erst ein Schüler vor das Fahrrad, dann wenig später ein Mittvierziger auf dem Weg zur Bushaltestelle. Beide haben keinen Blick für mich übrig, weil sie gerade mit ihrem Handy beschäftigt sind. Radfahrer gehören auf die Straße, der Fußweg ist zu gefährlich, denke ich, als ich mein Rad vor dem Sportstudio parke. Drinnen wundere ich mich über eine Frau, die in sich versunken Liegestütze macht – unter sich die Matte, darauf das Smartphone. Nur keinen Tweet verpassen?
Zugegeben, ob sie wirklich auf Twitter unterwegs war, blieb meinen alten Augen vorborgen. Ist aber auch egal. Einer Studie des Branchenverbandes Bitkom von 2017 zufolge schaut jeder Deutsche im Schnitt 30 Mal am Tag auf sein Smartphone – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Das ist viel, wenn man sich bewusstmacht:
1. Ein Handy kann man jederzeit orten.
2. Mit dem mobilen Internet wird es noch viel bequemer: Wir geben zudem preis, was uns gerade bewegt und beschäftigt.
3. Allen die glauben, keine Geheimnisse haben zu müssen, empfiehlt ein Freund die US-Serie „Person of Interest“: Hier ist nicht nur die künstliche Intelligenz enorm mächtig und ihr Netzwerk undurchschaubar, hier kann man glatt zu der Schlussfolgerung kommen, dass Social Media von Geheimdiensten erfunden wurde…
Über den Fluch der sozialen Sichtbarkeit ging es schon in meinem letzten Beitrag, jetzt soll es speziell um Twitter gehen. Nicht nur weil es so schön zum Buchstaben T passt, bei dem wir im ABC der modernen Kommunikation bereits angekommen sind. Sondern auch weil es ein mächtiges Tool ist, das Journalisten und Kommunikationsexperten schätzen. Mit zwei Folgen: Erstens wird seltener kritisch über Twitter berichtet als beispielsweise über Facebook, das gerade mehrfach von früheren Managern kritisiert wird, weil es die Kreativität und die Wahrheit untergrabe. Zweitens twittern Politiker besonders gern, weil sie wissen, dass sie allein über die mitlesenden Journalisten in Sekundenschnelle ein Millionenpublikum erreichen können. Allerdings dient das nicht immer einem konstruktiven Dialog und zivilen Diskurs, vielmehr fördert es ein unreflektiertes, impulsives Verhalten – und mit der Wahrheit muss man es auch nicht immer so genau nehmen.
Das berühmteste Beispiel findet man, wenn man nach den Begriffen Präsident und Twitter sucht: Bei Google steht sofort der Trump-Account oben. Aber auch hierzulande twittern Politiker gelegentlich Krisen herbei, anstatt diese zu lösen. Ohne Twitter wäre beispielsweise eine Jamaikakoalition wahrscheinlicher gewesen, meint Spiegel-Redakteur Markus Feldenkirchen und ich finde, da ist viel dran. Dazu braucht man nur mal die Tweets von FDP und Grünen zurückzuverfolgen: Während der Sondierungen wurden zu viele Gesprächsinhalte, aber auch Gerüchte und Gehässigkeiten verbreitet. Das erschwerte die Verhandlung, weil Zwischenlagen, Stimmungen und eigene Befindlichkeiten an die große Glocke gehängt wurden, von denen besser niemand erfahren sollte, wenn man am Ende eine erfolgreiche Koalition auf die Beine stellen will. Nach dem Aus der Gespräche kam dann noch Wut hinzu. Und nun? Falls SPD und CDU das Land jetzt ernsthaft gemeinsam aus der Krise führen wollen, brauchen sie eins: Das Einvernehmen nicht über den Inhalt der Sondierungen zu twittern.
Wenn ich darüber nachdenke, scheint mir die These von den Geheimdiensten hinter Twitter, Trump und Co. gar nicht mehr so gewagt. Solange wir dauernd mit Werbeschnipseln in eigener Sache beschäftigt sind, zwischen Fake und Fakt nicht mehr unterscheiden können, können andere uns manipulieren und eigene Ziele verfolgen.
Herr N.
30. März 2018„Businesses that make money by collecting and selling detailed records of private lives were once plainly described as `surveillance companies.´ Their rebranding as `social media´ is the most successful deception since the Department of War became the Department of Defense.“
— Edward Snowden (@Snowden), March 17, 2018