Wo warst du, mémère, als Hamburg aufstand und die Menschlichkeit verteidigte?
Frage meines ungeborenen Enkelkindes in zehn Jahren
Erst habe ich die SMS einer Freundin gelesen. Ob ich zur Kundgebung gegen Rechtsextremismus gehen würde, hat sie gefragt. (Die zwei kleinen Wörter, ob ich das mit ihr zusammen tun würde, habe ich überlesen. Man überliest so viel, auch das ist Teil des Problems). Dann erreichte mich das Video von FC Freiburg Trainer Christian Streich. Fußballtrainer sind auch Bürger, hat er gesagt. Und dass, wer jetzt nicht aufsteht, nichts verstanden habe von unserer Geschichte und den Freiheiten unserer Demokratie, die es zu schützen gelte.
Ich habe Geschichte studiert, bin freiberufliche Journalistin und wenn alles gut geht, werde ich in diesem Jahr noch Großmutter, französisch umgangssprachlich mémère (– was in meinen Ohren besser klingt als Oma). Mit anderen Worten, es gibt viele Gründe, warum ich meine Termine hätte absagen, die Bus und Bahn nehmen und demonstrieren sollen. Stattdessen bin ich fahrig und unkonzentriert geworden. Auch wegen eines anderen Videos, das plötzlich das Streich-Statement ablöste. Vermutlich hatte ich versehentlich irgendwo rechts am Rand geklickt, auf das, was der Algorithmus noch so im Angebot hat. Etwa den Hobby-Bowler, der verbreiten wollte, wie man die SPD am besten zerschlagen kann. Eine Partei mit einer 160jährigen Geschichte, vielen Höhen und jetzt gerade wieder Tiefen: Wer wollte da noch auf sie draufkegeln?
Informationsüberflutung mit einem wachsenden Anteil an Desinformation sind ein Teil des Problems. Ein weiterer sind laute Stimmen und schnelle Meinungen. Dabei gibt es auch viel Zustimmung unter dem Streich-Video neben Kommentatoren, die sich auf den Schlips getreten fühlen. Drei Beispiele:
- Heute75 ist nach 75 Jahren in Frieden und Freiheit überzeugt, dass Streich einfach nur ein Grüner sei – und verkennt damit, dass es nicht um politische Meinungen, egal welcher Couleur geht. Es geht um Remigration, Deportation und Geheimpläne gegen Deutschland.
- Michael aus Bonn zweifelt gar am Verstand des Trainers, weil er sich dem „betreuten Denken der Medien und der Politik hingebe“ – und man fragt sich, was das denn wohl für eine „Betreuung“ sein mag, die von bild bis taz, von AfD über FDP bis Links eine so große Bandbreite des Denkens, der Überzeugungen und Handlungen zulässt.
- Auch Welle spricht von einer Blase, aus der heraus Streich nicht beurteilen könne, was den „kleinen Bürger“ beschäftige, er kenne das wahre Leben wahrscheinlich nur aus der „Tagesschau…“ Als ob die Propagandisten in den sozialen Medien das wahre Leben verbreiten und schützen würden.
Drei Stellvertreter-Kommentare für drei Probleme
- Es fehlt uns allen die Bereitschaft zum Kompromiss. Das betrifft übrigens auch die Regierung selbst, wie der wie der Politologe Albrecht von Lucke analysiert hat.
- Es gibt nicht mehr eine Welt und Wahrheit, sondern offenbar ganz viele.
- Etablierte Medien haben an Ruf, Rang und Reichweite verloren. Wem vertrauen wir noch?
Natürlich habe auch ich keine Lösung für die Zerrissenheit, das Schwarz-Weiß-Denken und das Gefühl vieler User, nicht mehr gehört und vertreten zu werden. Aber zumindest bei der Medienschelte sehe ich Handlungsmöglichkeiten:
- Weniger Schlagzeilen, die clicken, also zuspitzen und emotionalisieren als solche, die vermitteln und Schnittmengen aufzeigen.
- Menschen zuhören, die sich nicht gehört fühlen, aber noch bereit sind, mit den Vertretern etablierter Medien ins Gespräch zu kommen – ohne vor menschenfeindlichen Positionen einzuknicken.
- In Zeiten, in denen es mit Hilfe der generativen KI immer leichter wird, Desinformation oder Werbung professionell zu verbreiten, brauchen wir Medienkompetenz. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche, die etwa auf Tiktok nicht nur Pop und Promis finden, sondern auch Propaganda, etwa gegen Biden, wie der Journalist Sebastian Meineck in seinem aktuellen Online-Recherche Newletter zeigt.