Da ist zum Beispiel Sandra Rebena. Sie hat mehr als neun Jahre Erfahrung im Video Marketing hinter sich und empfiehlt mir „Go for Content marketing and Video marketing“. Wahnsinnstipp, denke ich und lösche die „suggestions to increase your business“ aus meinem Postfach. Darüber eine Mail mit der höchst suspekten Absenderadresse „Cherry.Intercom“, die „Top-qualified Video Interkom Kits“ verspricht und die ich ungeöffnet eliminiere. Spam, schon klar, aber doch merkwürdig, dass das ausgerechnet jetzt in meinem Postfach landet. Wo gerade ein Video von einem jungen Mann mit blauen Haaren und orangefarbenem Sweater nicht nur die CDU aufrüttelt, sondern auch die neu gekürte Parteichefin nach nur einem halben Jahr Amtszeit in Frage stellt.
Die Reichweite, die das Rezo-Video dabei erzielte, versetzt Medienberater in Aufruhr, Werbekunden ins Schwärmen – und beschert hippen Agenturen neue Aufträge. Jedenfalls wenn sie sich „digital-first Lead Agentur“, „Kreativagentur“ oder direkt „YouTube-Agentur (YouTube-SEO ist unser Spezialgebiet!)“ nennen, mindestens fünf Standorte auf drei Kontinenten vorweisen können und mit der Groß- und Kleinschreibung in ihrem Namen großzügig umgehen. Dazu noch: Hashtags lieben, Bindestriche meiden und auf jeden Fall den Unterschied machen wollen.
Apropos, ich wurde dazu tatsächlich von einer Kundin angesprochen. Ob wir nicht auch die jungen Leute stärker dort abholen, wo sie sind und ein „cooles Video“ drehen könnten, das die Timeline-Runde macht.
Meine Antwort darauf:
- Aktionismus unbedingt vermeiden und Inszenierung nicht mit Inhalt gleichsetzen!
- Sich selbst treu bleiben und sich doch kommunikativ weiterentwickeln – eine Frage der Glaubwürdigkeit!
- Erst eine klare Botschaft entwickeln, dann überlegen, in welcher Form und wo man sie am besten verbreitet: Rezo ist ja nicht nur ein „cooler Typ“, er hat auch tatsächlich etwas zu sagen!
- Ein Video allein macht es nicht: Die SPD Politiker Lars Klingbeil, Tiemo Wölken und Kevin Kühnert haben ehrlich, schnell und dialogbereit auf das Rezo Video reagiert. Aber wie viele junge Leute haben es angeschaut? (Maximal 200 000, denn Clicks wie die von mir oder recherchierenden Journalisten muss man ja noch abziehen). Das Rezo-Video dagegen wurde schon 14 millionenfach angeklickt – angesehen bestimmt nicht, selbst meine nachhaltig engagierte Tochter hat nur zehn Minuten geschafft.
Aber ich bin ja nicht hipp. Ich habe nur einen Standort auf dem Dachboden eines Reihenhauses und lege immer noch Wert auf Groß- und Kleinschreibung. Schließlich macht es einen Unterschied, ob ich „liebe Genossen“ oder „Liebe genossen“ habe! Das merkt inzwischen selbst die SPD!