„Jour du dépassement“, „Earth Overshoot Day“ oder „Erdüberlastungstag“ – auf gut Deutsch gesagt reicht ein Wort, wo andere Sprachen mehr brauchen. Und doch geht es um ein- und denselben Tag, den 28. Juli 2022, und ein- und dasselbe weltumfassende Problem. (Dass wir über unsere Verhältnisse leben, auf Kosten unserer Kinder und nachwachsender Ressourcen, wird natürlich nicht nur an diesem Tag deutlich. Aber dass dieser Tag vor 50 Jahren noch Ende Dezember anstand und es ihn jetzt schon ein halbes Jahr früher gibt, hebt das Problem besonders ins Bewusstsein. Klar, dass es so nicht weitergehen kann und wir nicht nur Energiesparen müssen, sondern auch wollen sollten…)
Vielleicht ist es nicht besonders feinfühlig von mir, dass ich so ein ernstes Beispiel aufgreife, um auf ein weniger gravierendes Phänomen der deutschen Sprache aufmerksam zu machen: Wir haben ein ziemlich perfektes Wortbildungssystem, das aber gelegentlich zu Wortungetümen führt. Ein Beispiel dafür wäre Müllautohintendraufsteher, der es aber im Unterschied zum Erdüberlastungstag noch nicht in den Duden geschafft hat. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Müllautohintendraufsteher wird so gut wie nicht verwendet und gehört damit nicht zur Standardsprache.
Eine Branche, die es beim Wortungeheuerbastelwettbewerb besonders weit bringt, sind die Juristen: Dass ein Erblasser nichts mit Er-bleichen, aber sehr wohl mit Leichen zu tun hat, musste ich erst durch traurige Familienumstände lernen. Und um Schweigepflichtentbindungserklärungen, Deckungserweiterungen (damit keine Missverständnisse aufkommen, es geht um Versicherungen) oder Allmählichkeitsschäden mache ich einen großen Bogen. Schön aber doch, dass der Versicherer mir in den allgemeinen Bedingungen noch mal versichert, dass er mit mir in der deutschen Sprache kommuniziert. Ja wo auch sonst auf der Welt gibt es einen Versicherungsombudsmann (noch ohne Gendersternchen) oder eine Finanzdienstleistungsaufsicht in einem Wort.
Wort des Jahres 2022
Zum Ende des Jahres wird die Gesellschaft für deutsche Sprache wieder ihr Wort des Jahres präsentieren und weil ein – Achtung zwei Begriffe – „Think Tank“ nun mal seiner Zeit weit voraus sein muss, hat das Zukunftsinstitut schon zu Beginn des Jahres die Trendwörter 2022 vorgelegt. Dabei sind reichlich viele denglische Wortungetümer herausgekommen, etwa:
- LinkedIn-Flex (Platz 10, Selbstbeweihräucherung in sozialen Netzwerken)
- Boomerangst (Platz 6, Angst meiner Generation vor dem Älterwerden oder Alt-Erscheinen)
- E-Volution (Platz 5, die Hoffnung, dass E-Antriebe den Verbrennungsmotor bald hinter sich lassen)
Dass es Impfluencerinnen auf Platz 4 und Pandemials auf Platz 1 geschafft haben, zeugt nur davon, dass wir im Januar eben doch noch ganz andere Themen als Ende Juli hatten. Ich bin daher sicher, dass es keiner dieser Begriffe zum Wort des Jahres schafft. Vermutlich wird dieser eher aus der Kiste der Kriegspropaganda stammen, Spezialoperation und Volksmiliz beispielsweise.
Ein Wort, das mich gerade sehr bewegt, beziehungsweise auf die Palme und damit leider kaum von der Stelle gebracht hat, ist der Schienenersatzverkehr, kurz SEV. Steht auch schon in der Ausgabe der 24. Auflage des Dudens und seit drei Wochen auf der Anzeigetafel meiner nächstgelegenen S-Bahn-Haltestelle. Dumm nur, wenn da, wo die Schiene endet, gar kein Ersatz mehr wartet, weil die Bahn zu spät ankommt, der SEV-Bus aber pünktlich abfährt. Das mag ja fahrplangemäß sein, ist aber dann kein SEV mehr, sondern ein Schienenversatzverkehr, kurz SVV.
Apropos, wer verschiedet sich da auf meine Beschwerde hin mit freundlichen Grüßen: „Ihr Kundendialog (KI)“. Künstliche Intelligenz, echt jetzt? Glaube ich nicht, jede KI müsste wissen, dass der Zufriedenheitsindex nur verlieren kann, wenn man Meinungsumfrage direkt an die Beschwerdeführerin richtet.