Was haben Musik und Texte gemein? Sie haben eine eigene Energie und können uns in Schwingungen versetzen. Klar, bei der Musik ist das offensichtlich: Haben die Komponisten alles richtig gemacht, fangen wir beim Hören eines „groovigen“ Musikstücks an, mitzuwippen oder wenigstens mit dem Kopf zu nicken.
So haben französische Wissenschaftler Freiwilligen verschiedene Musikstücke vorgelegt und ihre Gehirnaktivität aufgezeichnet. Anschließend sollten die Teilnehmer den Grad des empfundenen Grooves bewerten. Dabei schnitten einfache Rhythmen am besten ab, wenn sie durch eine Synkope, also eine Verschiebung der Betonung gleichzeitig ein wenig aus dem erwarteten Takt gerieten. Das ist für uns offenbar überraschend genug, um uns in Bewegung zu bringen. So als wollten wir die Lücke, die der Rhythmus in unserer Erwartungshaltung hinterlassen hat, füllen.
Ich behaupte, das gilt auch für Texte: Sie müssen auf Vorerfahrungen zurückgreifen, damit wir sie überhaupt anlesen. Aber dann über uns, unser Wissen und unsere Erwartungen hinausweisen – sonst hätten wir uns ja gar nicht die Mühe der Lektüre zu machen brauchen.
Mehr noch: Es gilt sogar für Begriffe. Denn für Texte bleibt in der auditiv und visuell bestimmten Medienwelt immer weniger Raum. Daher hat die Reklamewelt schon früh den Werbelogan, später auch Claim genannt, erfunden. Und die Politik die „Bazooka“ oder die „Kreditaufnahmekapazität des EU- Haushaltes“ – was nichts anderes als gemeinsame Schulden bedeutet und damit ein Tortenwort ist: Es verharmlost, ja relativiert und färbt schön. Oft versuchen Tortenworte auch als neu zu verkaufen, was im Kern nur aus Zucker, Mehl, und Eiern besteht.
Fad oder verführerisch: Wann greifen wir zu?
Hier mal drei Beispiele von negativ besetzt über nüchtern bis gelungen:
- Letzte Generation: Für mich ein negatives Tortenwort, weil es nicht das erreicht, was es möchte, nämlich Menschen zu bewegen, sich gegen den Klimawandel zu engagieren. Vielmehr erlebe ich die Stimmung aktuell eher andersherum: Wenn wir mit Z nun wirklich am Ende unseres Lateins angekommen sind, wozu sich dann noch klimaschonend verhalten? Der Klimawandel ist ja eh nicht mehr aufzuhalten.
- Studierendenfachbereichsgruppe: In meiner Visitenkartensammlung befindet sich seit kurzem der Leiter einer solchen. Es handelt sich um einen Berufssoldaten, der eine Gruppe von Studierenden an der Universität der Bundeswehr militärisch leitet. Unübersetzbar und unsäglich, moniert ein Wissenschaftler. Kompanie wäre der korrekte Begriff, er sei aber verpönt.
- Over-Choice-Effekt: Es geht um die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, gerade wenn die Auswahl riesig ist. Klar, der Begriff ist mehr oder weniger englischsprachig, das ist schon mal sexy an sich. Er greift bekannt Phänomene wie Overtourism auf und fügt eine neue Wendung hinzu. Ich fühle mich ertappt, aber zugleich schön beschrieben. Es ist schließlich nicht mein Fehler, wenn der Wohlstand hier nach wie vor so groß ist, dass mir hundert Nudelsorten geboten werden, wenn ich nur eine einzige benötige…
Natürlich ist das Tortenwort, selbst eines. Es findet sich daher auch nicht im Duden. Aber ein Blog-Beitrag in blumiger Sprache über Glimpfworte, Hüllworte oder Euphemismen, hätte bestimmt nicht mehr Aufmerksamkeit erzielt.