Anatomie eines Videos

Anatomie eines Videos

Neulich ist es wieder passiert. Eine Freundin schickt ein Video der Dachmarke „Video-Trend“, doch davon keine Spur: Es handelt sich um eine Diashow, mindestens fünf Jahre alt. Der Titel: „Wenn du zwischen 1950 und 1989 geboren wurdest, solltest du das hier lesen.“ Schon die Aufforderung irritiert mich. Warum so eine große Spanne, die zwei Generationen umfasst und womöglich der Zweiteilung Deutschlands huldigt. Und was soll ich lesen, wenn es doch in erster Linie um schöne Bilder, untermalt mit Musik und ja, ein paar steilen Thesen geht?

Ich ahne nichts Gutes und möchte es aus diesem Grund auch hier nicht teilen. Denn darum geht es ja gerade: Wir teilen zu viel und zu wenig mit. Wir posten und posaunen ständig – und tragen damit zur Verbreitung der Fake News und Desinformationskampagnen bei, die gerade vor der Europawahl die Runde machen. Denn es war schon vor fünf Jahren kinderleicht, mit einem Movie Maker Tool aus ausgewälten Bildern, Musik und Überschriften animierte Abfolgen und visuelle Effekte zu generieren. Heute ist es KI-leicht. So wurde das Video „Oma, was war nochmal dieses Deutschland?“ rein durch KI visualisiert. Blöder Titel, aufrüttelnde und ja auch reißerische Bilder, aber beeindruckend, was „Made by KI“ schon bedeuten kann: Es geht darum, wie es im Jahr 2060 in Deutschland aussehen könnte, käme eine Partei an die Macht, die alle Menschen mit Migrationshintergrund deportiert. Viele Videos, die mir Youtube anbietet, wollen aber gar nicht nachdenklich machen. Sondern Voreingenommenheit beflügeln.

Was mich überzeugt hat, nur noch zu teilen, was ich mehr oder weniger selbst verfasst habe:

  • Vor der Corona-Zeit habe ich mir für eine Kundin Whats-App geholt. Wir teilten damit Termine, für uns relevante Nachrichten und Aufnahmen. Zu Beginn der Corona-Zeit verbreitete eine Kollegin darüber eine angeblich wissenschaftlich untermauerte Studie, nach der Knoblauch oder Zwiebeln das Virus abtöteten. Die Geschäftsführerin hat die Gruppe sofort aufgelöst. Beeindruckend!
  • Wenn ich mir mal beruflich Mitschnitte oder privat Video Tutorials anschaue, ist die Liste der Alternativvorschläge am rechten Rand meines Bildschirms reißerisch bis rechtsradikal. Beängstigend!
  • Gestern kurz bei Linked-In. Der Algorithmus spülte ein Video in die Timeline, das drei Männer und ein Baby zeigte bei dem vergeblichen Versuch, einen Babywagen zusammenzuklappen. Kam eine Frau vorbei und erledigte das im Handumdrehen. Daumen hoch? Cool wäre es gewesen, wenn sie einen Motor zum Laufen gebracht oder ein Fahrrad repariert hätte. Aber so werden nur Klischees bedient. Erbärmlich!

In dem angestaubten Video-Trend meiner Freundin geht es mehr oder weniger um die These, warum die vor der Wende Geborenen wohl die wirklich „letzte Generation“ seien. Weil sie beispielsweise keine Fahrradhelme trugen, Zuckergetränke genossen oder voll gepackte Ranzen selbst in die Schule schleppten. Was bitte soll daran cool und „unvergleichlich“ sein? Lediglich einen Satz aus dem kruden Video will ich mir zu Herzen nehmen:

Machen wir das Handy aus und versuchen wir, uns mehr in die Augen zu sehen.

Wunderbar. Genau das mache ich jetzt. Wünsche einen schönen videofreien Start in den Sommer!

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